Wir leben in einer scheinbar sexuell offenen Welt, da wir einen freien Zugang zu sexuellen Themen und Informationen haben und im Alltag ständig mit sexualisierten Werbung konfrontiert werden. Dies heißt aber nicht, dass wir wirklich frei über unsere eigene Sexualität bestimmen können. In meiner Praxis als Sexualtherapeutin erlebe ich (insbesondere bei jungen) Frauen, dass es einen enormen Druck gibt, einer äußerlichen Norm zu entsprechen. Dies umfasst mittlerweile auch den Wunsch danach, dass die Geschlechtsteile „ideal“ aussehen sollen (d.h. nach dem heutigen Schönheitsideal, dass die inneren Schamlippen nicht vorstehen, so, wie es bei jungen Mädchen meistens der Fall ist).
Jahrelang haben sich Frauen relativ wenig Gedanken darüber gemacht, wie ihre äußeren Geschlechtsorgane aussehen „müssen“, da sie kaum Vergleiche hatten. Erst durch Pornografie und der Intimhaarrasur haben die meisten Frauen das eigene Geschlecht mit dem von anderen Frauen verglichen und die Sorge entwickelt, dass es nicht schön (genug) sein könnte. Im Angebot von „Schönheitschirugen“ (diese Berufsbezeichnung ist nicht geschützt!) sind Schamlippenverkleinerung, Schamlippenvergrößerungen und Schamlippenaufpolsterung. Ich weiß, dass auch Männer heute immer mehr unter einen Schönheitsideal leiden, aber noch sind es zu 85% Frauen, die sich zu einer Operation durchringen- als erstes ist dabei die Brustvergrößerung zu nennen, gefolgt von der Augenlidkorrektur.
Aber zurück zu meinem eigentlichen Thema für heute: Wie ist es zu erklären, dass das weibliche Geschlechtsorgan immer noch das „unbekannte“ oder auch „unsichtbare“ Geschlecht ist? Erst einmal liegt es in der Natur der Sache, denn der Penis liegt außerhalb des Körpers, so dass der Junge ihn schon ab Kleinkindalter anfasst, damit herumspielt, mit ihm uriniert und ihn später auch mit den Penissen von anderen vergleicht. Jungen und Männer haben also naturgemäß ein Bewusstsein für ihr Geschlechtsorgan und häufig sind sie stolz darauf (was nicht bedeutet, dass es nicht auch Männer gibt, die unter der Beschaffenheit ihres Geschlechts sehr leiden können!). Ich spreche hier von der allgemeinen, gesellschaftlichen Einstellung zum Penis als Zeichen der männlichen Stärke und Macht, die man schon alleine an den vielen phallischen Symbolen erkennen kann.
Warum wissen viele Frauen nicht genug über ihre Geschlechtsorgane?
Wie sieht es hingegen mit der Vulva aus? (Mit Vulva bezeichnet man übrigens den sichtbaren Teil des weiblichen Geschlechts- also den Venushügel, die äußeren und inneren Schamlippen, die Klitoris und den Scheidenvorhügel, während mit der Bezeichnung „Scheide“ (Vagina) der im Körper liegende Schlauch gemeint ist.) Warum haben wir so wenig Kenntnis über die Vulva, obwohl es doch die sogenannten „primären“ Geschlechtsorgane der Frau sind? Warum gibt es so wenige verehrende Formen und Symbole des weiblichen Geschlechts? Die Beschreibung „vulvisch“ kommt in der Sprache erst gar nicht vor.
In vielen Sprachen ist sogar die Bezeichnung der Vulva ein schlimmes Schimpfwort. Wie sollen Mädchen eine positive Beziehung zu ihrem Geschlecht entwickeln, wenn sie mitbekommen, dass Intimhaare das Geschlecht „unrein“ machen, dass es „ekelig“ riecht und die Menstruation ein Thema ist, über das nicht offen gesprochen wird? Welche Frau kann sich nicht an eine Situation erinnern, als sie vielleicht unerwartet ihre Periode bekommen hat und sich wegen eines Blutflecks in ihrer Hose unglaublich geschämt hat? In der Werbung für Binden und Tampons wird die Testflüssigkeit immer noch blau gemacht! (Es gibt seit einem Jahr eine Kampagne einer englischen Firma unter dem Titel „blood normal“, die mit dem Tabu bricht und „echtes“ Blut in rot zeigt.)
Über Jahrhunderte hinweg wurde suggeriert, dass das männliche Geschlecht das aktive ist und das weibliche das passive. Es gibt offenbar eine Angst vor der weiblichen Lust, denn sie bedeutet Autonomie. Lustvolle Frauen werden häufig gesellschaftlich verachtet und als „nymphoman“ oder als „Hure“ betitel, während es bei Männern eher positive Ausdrücke für ein aktives Sexualleben gibt (Casanova, Playboy, Schürzenjäger, Weiberheld, Womanizer, Lebemann, Don Juan, Herzensbrecher). An dieser Stelle möchte ich das leidvolle und frauenverachtende Thema der weiblichen Genitalbeschneidung (bzw. besser gesagt: Genitalverstümmelung) nur kurz erwähnen (weil es einen eigenen Text wert wäre): Frauen sollen wenig Lust haben und wenn überhaupt, dann nur im Rahmen einer ehelichen Sexualität. Die soll ihnen dann aber bitte schön auch Spaß machen, weil sie ansonsten schnell als „prüde“ oder „frigide“ betitelt werden können.
Und was lern(t)en wir in der Schule?
Bis heute werden in den Biologiebüchern, mit denen Kinder und Jugendliche „aufgeklärt“ werden, immer noch falsche beziehungsweise unvollständige Abbildungen der Klitoris gezeigt! Außerdem werden immer noch ziemlich abstrakte bis lustfeindliche Begriffe verwendet wie „Fortpflanzungsfunktion“, „Sexualorgane“, „Geschlechtsverkehr bzw. Geschlechtsakt“ und „erbsengroßer Kitzler“.
90% der Klitoris liegen im Inneren des Körpers und umfassen Schwellkörper, Muskeln und Drüsen, aber die Meisten kennen nur die sichtbare Klitorisperle (auch „Kitzler“ genannt). Penis und Klitoris entstehen beim Embryo aus derselben Schwellkörperanlage. Menschliche Sexualorgane unterscheiden sich zunächst also gar nicht voneinander- erst ab der 9. Schwangerschaftswoche geht die Entwicklung bei Jungen und Mädchen auseinander, wobei das männliche Schwellgewebe nach außen gestülpt ist und das weibliche nach innen. Schon alleine anatomisch haben Frauen also keinen Grund, sich sozusagen „genitalisch“ unterlegen zu fühlen, auch wenn der (von mir sehr geschätzte) Psychoanalytiker Siegmund Freund davon ausging, dass Frauen einen „Penisneid“ haben (müssen). Siegmund Freud hatte zu seiner Zeit enorm wichtige psychoanalytische Theorien über die Sexualität entwickelt, aber er hat auch mit der Theorie, dass der „klitorale Orgasmus“ minderwertig sei und erst die reifere (in seinem Sinne- verheiratete) Frau zu einem „vaginalen Orgasmus“ fähig wird, sehr viel Verunsicherung verursacht. Wenn man nämlich die Ausmaße der Klitoris kennt (mit ihren beiden längeren Schenkeln im Körperinneren), dann versteht man, dass beim sog. vaginalen Orgasmus die Klitoris nur von einer anderen Seite aus stimuliert wird als beim sog. klitoralen Orgasmus.
Mädchen werden sich über ihr Geschlecht oft erst bei der Menstruation so richtig bewusst und/oder beim ersten Besuch einer Frauenärztin- beides sind nicht unbedingt positiv besetzte Erlebnisse. Hinzu kommt, dass sie durch das Bild, was in den Pornos über Frauen gezeigt wird, glauben, dass diese das sexuell gut finden, was Männer mit ihnen machen. (Junge) Frauen haben oft eine unscharfe oder auch völlig fehlende Vorstellung von ihrer Vulva und von dem, was ihnen Lust macht (bzw. Lust machen könnte). Dabei wird in der Regel verschwiegen, dass über die Hälfte aller Frauen durch Geschlechtsverkehr alleine gar nicht zum Orgasmus kommen (können). Wenn der positive Aspekt der Pornos ist, dass junge Menschen sich heute ansehen können, wie Sex „geht“, so ist der negative, dass sie häufig viel zu früh damit konfrontiert werden, sich also überfordern und dass sie in der Regel nur mit Gleichaltrigen darüber sprechen. So kann bei Mädchen der Eindruck entstehen, dass man das alles tun muss bzw. die Jungs das erwarten, und es nicht um die Frage geht: Was will ich denn? Was gefällt mir und wo sind meine Grenzen? Und wie kann ich meine Bedürfnisse dem Jungen klar machen? (Denn im Porno sagt ja keine Frau, dass ihr etwas keinen Spaß macht oder dass sie sich mehr Zärtlichkeit wünscht).
In diesem Sinne sollte es für SexualpädagogInnen, BiologielehrerInnen, aber auch Mütter, die mit ihren Töchtern über diese Themen sprechen, das Ziel sein, das weibliche Selbstbewusstsein zu stärken, den Stolz auf die eigene Weiblichkeit zu unterstützen und die gesellschaftlichen Werte und Rollenerwartungen kritisch zu hinterfragen.
Sexualtherapeutinnen können Frauen dabei helfen, einen besseren Kontakt zu ihren Bedürfnissen zu bekommen, Ängste zu überwinden und ein sexuelles Genießen zu ermöglichen- z.B. durch Körperwahrnehmungsübungen und reflektierenden Gesprächen, aber auch durch das Aufklären von falschen Erwartungen und Vorstellungen.
In diesem Sinne: Viva la Vula!
Zuletzt möchte ich noch 2 Bücher empfehlen:
„Komm, wie du willst- das neue Frauen-Sex-Buch“ von Emily Nagoski
„Coming soon- Orgasmus ist Übungssache“ von Diana Schiftan