Sexualtherapeuten haben es lange als ein Problem angesehen, wenn ein Klient/eine Klientin wenig sexuelle Lust verspürte. Die damaligen Therapieansätze von Masters und Johnson (1950- 1960er Jahre) und von Helen Singer Kaplan (1960-1970er Jahre) zielten darauf ab, dass die Klienten über Streichelübungen lernen sollten, (wieder oder erstmals) Lust zu entwickeln. Das hat bestimmt auch vielen Menschen geholfen, die puritanisch erzogen worden sind und oft gehemmt darin waren, ihre Sexualität zu genießen.

Heute ist Lustlosigkeit eines der häufigsten Themen, mit dem Paare oder Einzelpersonen zu mir in die Sexualtherapie nach Aachen kommen (und es sind nicht nur die Frauen, die darüber klagen, sondern zunehmend auch Männer).

Man kann sich natürlich fragen, warum wir immer lustloser werden, obwohl wir so frei wie noch nie erzogen werden und Zugang zu allem möglichen sexuellen Inhalten haben? Oder ist die Lustlosigkeit vielleicht sogar eine Reaktion auf die Reizüberflutung im Internet und in der Werbung?

Spielt das Alter eine Rolle?

Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass die Häufigkeit des Sexes bei Paaren nicht vom Lebensalter abhängt, sondern von der Beziehungsdauer: je länger Paare zusammen sind, desto seltener haben sie i.d.R. Sex. Dabei glaubt wahrscheinlich niemand, der eine Partnerschaft eingeht, dass ihm das passieren wird. In meinen Sexualtherapiesitzungen höre ich immer wieder von Paaren, wie toll der Sex am Anfang ihrer Beziehung war.

In den meisten Beziehungen gibt es einen, der mehr Verlangen hat.


Häufig streiten die Paare darüber. (Das ist schon interessant: wir sind ja auch in vielen anderen Bereichen unterschiedlich, streiten aber nicht darüber, ob einer lieber Bier und der andere lieber Wein trinkt oder ob einer sportlich ist und der andere nicht).

Der, der Lust auf Sex hat, betitelt den anderen schnell als „nicht normal“, während dieser sich unter Druck gesetzt fühlt. Manchmal kommt es dann zum „Gnadensex“ oder „Mitleidssex„, auf den der Lustlose sich einlässt, um weitere Streitgespräche oder schlechte Launen des Partners zu vermeiden. Dieser Sex ist aber für beide oft nicht schön: der Lustlosere ist innerlich distanziert und genervt, weil er sich gedrängt fühlt und der andere spürt die Distanz und die fehlende Leidenschaft.

Starkes oder schwaches Verlangen ist sicher relativ- man misst es meist am Partner. Es bringt Sie nicht weiter, wenn Sie nach der Norm fragen (diese Frage höre ich als Sexualtherapeutin sehr oft: „Finden Sie das normal?“). Meine persönliche Meinung dazu ist übrigens, dass in den Umfragen nach der Häufigkeit von Sex ganz schön gelogen oder zumindest übertrieben wird! Wenn beide sich mit der Art und der Häufigkeit ihres Sexlebens wohl fühlen, dann sollte es keine Rolle spielen, was die Norm dazu sagt!

Geht es den Männern um Sex und den Frauen um Gefühle?

Teilweise hat in einer längeren Beziehung der eine mehr Verlangen nach Sex und der andere nach emotionaler Nähe (klassischer Weise sind/waren es die Frauen, die mit dem Partner über Gefühle reden wollten und die Männer wünschten Sex, aber es kann natürlich auch genau umgekehrt sein.) Manchmal hängen diese Themen auch zusammen, weil der, der sich emotional vernachlässigt fühlt, sich nicht auf Sex einlassen möchte/kann.

(Übrigens sehe ich als Sexualtherapeutin häufig heraus, dass eine Frau nicht generell lustlos ist, sondern sie nur wenig Lust auf die Art von Sex hat, die ihr in der Beziehung geboten wird bzw. dass sie sich in ihrer Partnerschaft auch in anderen Bereichen nicht achtsam behandelt fühlt). Tendenziell habe ich den Eindruck, dass Frauen lieber auf schlechten Sex verzichten wollen und Männer ihn tendenziell hinnehmen, damit überhaupt Sex stattfindet (wie immer- Ausnahmen bestätigen die Regel in Bezug auf Frauen/Männer).

Probleme mit unterschiedlichem Verlangen können in jeder Beziehung auftreten, nur kann man in guten Beziehungen damit besser umgehen!

Als Paartherapeutin weiß ich, dass es auch in anderen Bereichen einer Beziehung Machtgefälle gibt, z.B. wenn einer sehr ordentlich ist und der andere nicht. Der Unordentliche hat die Macht, denn er entscheidet, ob und wie er auf Bitten, Drängen und Unter- Druck-Setzen des anderen eingeht.

Genau so hat der mit weniger Lust immer die Kontrolle über den Sex – ob er das will oder nicht.

Falls Sie in Ihrer Beziehung die-/derjenige mit weniger Verlangen sind, werden Sie vielleicht jetzt innerlich protestieren, weil es keineswegs angenehm ist, wenig Lust zu haben und Sie sich das auch bestimmt nicht ausgesucht haben. Trotzdem hat es die Wirkung: der oder die mit wenig Verlangen bestimmt, wann etwas läuft und hat somit die Macht über den Sex. Er/sie überlässt dem anderen auch meist die Initiative und begibt sich in eine wartende Position.

Nach der Anthropologin Helen Fisher gibt es 3 Motoren für unser sexuelles Verlangen :
1. (genitale) Lust
2. Verliebtheit
3. Bindung in einer langjährigen Beziehung

Bei jedem von diesen Zuständen spielen Hormone eine große Rolle: für die Lust ist Testosteron und Östrogen zuständig (bei Männer und Frauen), für die Verliebtheit Dopamin, Noradrenalin und Serotonin und für die Bindung das Oxytocin und das Vasopressin.
Übrigens: Die Hormone, die in der Verliebtheit vermehrt produziert werden (Dopamin, Noradrenalin und Serotonin) fördern auch die Produktion von Testosteron (und erhöhen somit das Verlangen). Das erklärt, warum Verliebte nicht die Finger voneinander lassen können.
(Die Verliebtheitsphase muss zeitlich begrenzt sein, weil unser Gehirn und auch unser Körper diesen „überdrehten“ Zustand gar nicht lange durchhalten würden: wir können uns in dieser Phase kaum auf unsere Arbeit oder andere Menschen konzentrieren und essen und schlafen in der Regel zu wenig. Trotzdem sehnen sich viele nach dieser Phase zurück. Wenn Paare in der Therapie sagen, dass „es wieder so werden soll wie früher“, meinen sie häufig die erste Zeit ihrer Beziehung.)

Wie schon erwähnt: Probleme mit unterschiedlichem Verlangen gibt es also ziemlich häufig in längeren Beziehungen. Sie sind – auch wenn ich das Wort nicht so mag- sozusagen „normal“. In der Regel fühlt sich der Partner mit mehr Verlangen wenig begehrt oder sogar unattraktiv. So ist der Mensch: Wir fühlen uns attraktiv, weil der andere uns attraktiv findet. Wir begehren den anderen, weil wir selber begehrt werden- so funktioniert es in der Verliebtheit. Wir fühlen uns großartig, weil wir ständig durch den anderen bestätigt werden und das macht Lust darauf, auch den Partner ständig zu bestätigen. Der Nachteil daran ist nur, dass wir von der Bestätigung durch den anderen abhängig sind, und es leicht zu einer Selbstwertkrise kommen kann, wenn diese weniger wird oder ausbleibt.

Was passiert, wenn einer Lust vorspielt?

Manchmal beginnen sexuelle Probleme (unausgesprochen) schon sehr früh in einer Beziehung: der eine ist unsicher in Bezug auf seine Fähigkeiten als Liebhaber, weil er ein zurückhaltendes Verhalten des anderen als Kritik auffasst. Der wiederum spürt das und gibt sich begeisterter als er ist, weil er das Selbstwertgefühl des Partners stärken will. Das Problem dabei: je häufiger einer vorspielt, dass er Lust hat, umso weniger Spaß wird er mit der Zeit beim Sex haben. Der Partner merkt das und wird (noch) unsicherer, was wiederum sein Selbstwertgefühl verringert. So möchte er vielleicht bald wieder Sex, um sich zu bestätigen. Und so entsteht ein Teufelskreis bzw. eine Pattsituation.

Hier würde ein ehrliches Gespräch – besonders zu Anfang einer Partnerschaft – helfen, um einen solchen Teufelskreis zu vermeiden. Z.B. hatte ich ein Paar in der Sexualtherapie, von dem die Frau noch sehr wenig sexuelle Erfahrungen hatte, der Mann hingegen schon. Die Klientin hat dann anfangs sehr viele Praktiken mitgemacht, weil sie dachte, dass das so sein müsse. Sie hat ihrem Partner aber verheimlicht, dass sie sich dabei unwohl fühlt. In diesem Sinne hat sie sich selber überfordert, weil sie ihre eigenen Grenzen nicht gespürt und geschützt hat und der Partner davon ausgehen musste, dass es ihr gefällt. Das Resultat war, dass sie im Laufe der Zeit immer weniger Lust auf Sex entwickelte und später sogar beim Geschlechtsverkehr Schmerzen bekam.

Am Ende möchte ich den Paartherapeuten Michael Cöllen zitieren, der in seinem Buch „Das Verzeihen in der Liebe“ schreibt: „In Bezug auf Sexualität gibt es immer noch viele Männer, die um Sexualität streiten oder sie einfordern und durch Kränkungen und Übellaunigkeit demonstrieren, was sie glauben, dass ihnen zustehe. Je mehr sie aber fordern, desto weniger bekommen sie.“

Wenn Sie das Thema interessiert, haben ich folgenden Literaturtipp für Sie: https://www.amazon.de/Intimit%C3%A4t-Verlangen-Leidenschaft-dauerhaften-Beziehungen/dp/3608947981/ref=sr_1_1?crid=3MCXM56Q1XFHQ&dchild=1&keywords=david+schnarch+intimit%C3%A4t+und+verlangen&qid=1635446907&sprefix=david+schan%2Caps%2C242&sr=8-1

oder Sie lesen auch meine anderen Fachartikel:https://paar-fit.de/wie-kann-man-in-einer-langjaehrigen-beziehung-das-feuer-wieder-neu-anfachen-teil-1/

https://paar-fit.de/wie-kann-man-in-einer-langjaehrigen-beziehung-das-feuer-wieder-neu-anfachen-teil-2/

https://paar-fit.de/wir-haben-nur-noch-selten-sex-miteinander-ist-das-normal-wo-bleibt-das-begehren-in-langjaehrigen-partnerschaften/

Petra Schmitz-Blankertz

Petra Schmitz-Blankertz

Paar- und Sexualtherapeutin, Suchttherapeutin, Diplom-Sozialarbeiterin, Heilpraktikerin für Psychotherapie

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